Nicht jeden Tag ...

Die Verantwortung der Wissenschaftler/innen – oder:
Man entdeckt nicht jeden Tag die Relativitätstheorie

© 1989/92 Friedhelm Schneidewind
Auszüge
(mp3, 2:07, 885 KB) gelesen für die Radiosendung vom 11.04.2011 im Bermudafunk


»In einem elementaren Sinne haben die Physiker die Sünde kennengelernt, und das ist ein Wissen, das sie niemals mehr verlieren können.«

Das sagte der leitende Physiker der Atombombenentwicklung in den USA, Julius Robert Oppenheimer, vielen bekannt durch das gleichnamige Schauspiel von Heinar Kipphardt1, kurz nach dem Ende des 2. Weltkrieges in Los Alamos zu seinen Mitarbeitern.

Seit dem 6. August 1945 wissen wir, dass wir in der Lage sind, uns und eventuell alles Leben auf diesem Planeten zu vernichten. Spätestens seit jenem Tag hat die Diskussion um die Verantwortlichkeit der Wissenschaftler/innen eine neue Dimension erhalten.

Mit dem Aufkommen der Gentechnologie gibt es neue Gefahren, besonders die Gefahr irreversibler Veränderungen der Natur – nach einem Wort von Erwin Chargaff ist das Besondere an der Genmanipulation, »dass auch ein Genie nicht mehr gutmachen kann, was ein Trottel angerichtet hat«. Die Devise kann und darf nicht mehr sein: Ich forsche und schere mich den Teufel um das, was herauskommt; der Mythos von der Wertfreiheit der Wissenschaft hat ausgespielt, auch wenn er noch in vielen Köpfen herumspukt.

Und es gab Wissenschaftler/innen, die daraus Konsequenzen zogen: 1958 verweigerten 18 prominente Göttinger Wissenschaftler auf die Ankündigung Adenauers hin, die Bundeswehr mit Atombomben auszurüsten, ihre Mitwirkung bei der Kernwaffenforschung2. 1974 riefen 11 Wissenschaftler von Rang zur zeitweisen Einstellung gentechnologischer Versuche auf3, und bei der berühmten Asimolar-Konferenz 1975 verabschiedeten über 140 Wissenschaftler/innen strenge Sicherheitsrichtlinien auf diesem Gebiet.4

Doch daraus den Schluß zu ziehen, den Wissenschaftler/innen könne man die Verantwortung für das alleine aufbürden, was aus ihren Forschungsergebnissen wird, ist übereilt. Gerade das Gentechnik-Moratorium von 1974 ist ein Gegenbeispiel: Um die Gefahren, vor denen sie warnten, abzuschätzen, waren diese 11 nicht kompetent genug; der Horrorkatalog, den sie aufstellten, hätte von jedem besseren Science Fiction-Autor stammen können – was nichts daran ändert, dass das Moratorium eine zunächst gute Sache war. Doch diese Abgabe der Entscheidung, die – zu begrüßende – Demokratisierung oder zumindest der Ansatz dazu hatte auch und hat bis heute einen Haken, auf den z. B. Jost Herbig 1979 bei einer Bundestagsanhörung hinwies:

»Durch Mehrheitsbeschluß der Wissenschaftsgemeinde ist das Risiko gesellschaftlich akzeptabel geworden. Die Wissenschaftsgemeinde hat die Gesellschaft verpflichtet, das Risiko in den Kontext ihres Alltags mit einzubeziehen. Das Risiko ist sozialisiert worden.«5

Verantwortlichen Wissenschaftler/innen bleibt nur, die Entscheidung der wie auch immer gestalteten mehr oder weniger demokratischen Gremien zu akzeptieren – oder sich Forschungen, die sie (trotzdem) für zu gefährlich halten, zu verweigern. Es stellt sich die Frage, ob »durchschnittliche« Wissenschaftler/innen überhaupt in der Lage sind, abzusehen, welche Auswirkungen ihre Forschungen haben – und ob (und wie) sie dann gegebenenfalls daraus Konsequenzen ziehen können.

Ich möchte diese Frage, bevor ich sie allgemein beantworte, etwas näher untersuchen am Beispiel eines der bekanntesten Wissenschaftler der modernen Literatur, des »Möbius« aus Friedrich Dürrenmatts Komödie »Die Physiker«.6

Zu Dürrenmatts Stück »Die Physiker«

Die Komödie »Die Physiker« des Schweizer Pastorensohns Friedrich Dürrenmatt (geboren am 5. Januar 1921 in Konolfingen bei Bern, gestorben am 14. Dezember 1990 in Neuchâtel7) ist seit Jahren eines der meistgespielten Stücke auf deutschen Bühnen. Es fällt schwer, eine bessere Inhaltsangabe zu geben, als sie in der Kritik der »Frankfurter Rundschau« vom 21. Januar 1983 zu finden ist: Heute wird das Stück von der Kritik allgemein anerkannt, zum Zeitpunkt der Entstehung sah das anders aus. Die Uraufführung fand am 21. Februar 1962 im Schauspielhaus Zürich statt; unter der Regie von Kurt Horwitz spielten u. a. Theo Lingen (Einstein), Gustav Knuth (Newton) und Hanne Hiob (Monika); vor allem Therese Giehse konnte in der Rolle der Mathilde von Zahnd das Publikum begeistern. Ihr hat Dürrenmatt das Stück in der Druckausgabe gewidmet, und es gab später eine fantastische Fernsehfassung mit ihr, bei der Dürrenmatt selbst Regie führte.

Ursprünglich waren die Kritiker/innen sehr geteilter Meinung, was vor dem Hintergrund der damaligen welt- und kulturpolitischen Situation verständlich wird: Es war die Zeit des Kalten Krieges; der Bau der Berliner Mauer lag erst ein halbes Jahr zurück, und wenige Monate nach der Uraufführung sollte es zur Kuba-Krise kommen. In Deutschland regierten Adenauer und der Nierentisch, die Bevölkerung war gespalten in jene, die in der Abschreckung wenn schon nicht das Heil der Welt, so doch zumindest das beste Mittel zu ihrer Erhaltung sahen, und jene, die schon seit längerem die Gefahren für die Menschheit erkannt hatten. Diese Unterschiede schlugen sich in den Kritiken nieder; auf der einen Seite gab es hervorragende, ja überschwengliche Besprechungen: »Es gibt, von Brecht einmal abgesehen, in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur kein Schauspiel, das wir über dieses stellen möchten – allenfalls des gleichen Autors ›Besuch der alten Dame‹« (Die Zeit, 5. Oktober 1962) oder: »Eindruck, ein erstaunliches Werk kennengelernt zu haben... [...] ›Die Physiker‹ wird im Theaterleben der Gegenwart Epoche machen« (Neue Zürcher Zeitung, 23. Februar 1962). Im Tages-Anzeiger in Zürich war, ebenfalls am 23. Februar, zu lesen: »...trotz der fast nüchternen Knappheit in Aussage und Szenenführung oder auch in der Charakterisierung der Figuren ist ein Stück reich an theatralischer Wirkung entstanden. Und ein sehr einmaliges Kunstwerk überdies, reich an Substanz und Eindrucksvermögen, unanfechtbar im bühnengerechten Verdeutlichen eines tief bewegenden Gegenwartsproblems.«

Dagegen standen Verrisse, die teilweise schon bösartig und ausfallend waren; es sei hier nur ein Beispiel zitiert: »Verehrter Herr Dürrenmatt, wann endlich bekommen wir auf Ihrer Bühne einen Menschen zu sehen, um den es wahrhaftig schade wäre, wenn die große Bombe platzte? [...] Der gewaltige, lang andauernde Beifall tat einem weh, denn er entwertete jenen Beifall, den im gleichen Haus erst jüngst das Schauspiel ›Andorra‹ von Max Frisch gefunden hatte.« (Rheinischer Merkur vom 2. März 1962)

»Die Physiker« sind eine Komödie – und für Dürrenmatt ist diese Form diejenige, mit der man heute am meisten erreichen kann: »Die Aufgabe der Kunst, soweit sie überhaupt eine Aufgabe haben kann, und somit die Aufgabe der heutigen Dramatik ist, Gestalt, Konkretes zu schaffen. Dies vermag vor allem die Komödie... Uns kommt nur noch die Komödie bei.«8 Dürrenmatt greift in den »Physikern« ein Weltproblem auf und stellt es mit den Mitteln der Überzeichnung und Groteske dar, reduziert es auf eine überschaubare Szene: »Sichtbar in der Kunst ist das Überschaubare. Der heutige Staat ist jedoch unüberschaubar... Mit einem kleinen Schieber, mit einem Kanzlisten, mit einem Polizisten lässt sich die heutige Welt besser darstellen als mit einem Bundesrat, einem Bundeskanzler. Die Kunst dringt nur noch bis zu den Opfern vor, dringt sie überhaupt bis zu den Menschen, die Mächtigen erreicht sie nicht mehr.«9

Dürrenmatt, der oft als der neben Max Frisch bedeutendste Dramatiker der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bezeichnet wird, beschäftigte sich schon relativ früh mit der Friedensproblematik. 1956 hatte er in der Weltwoche das Buch »Heller als tausend Sonnen« von Robert Jungk besprochen; in dieser Rezension sind wesentliche Gedanken der Physiker vorweggenommen, so die Unmöglichkeit der Rücknahme des einmal Gedachten: »Auch gibt es keine Möglichkeit, Denkbares geheim zu halten. Jeder Denkprozeß ist wiederholbar.« (Die Weltwoche, 7. Dezember 1956)

Diese Überzeugung Dürrenmatts findet sich auch in den »Physikern«, in Möbius` Aussage: »Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.« Laut Dürrenmatt hat sich Möbius also geirrt, als er meinte: »Wir müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen.« Dies sei, so der Autor, nicht möglich. Doch hier, so denke ich, irrt Dürrenmatt.

Möbius irrt – doch anders als er glaubt!

»Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.« Mit diesen Worten gesteht Möbius seinen folgenschweren Irrtum ein. Seinen beiden Kollegen gegenüber hatte er eingeräumt, es bleibe den Physiker/innen – und heute natürlich ebenso anderen (Natur-)Wissenschaftler/innen wie etwa Genetiker/innen – nur noch »die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen.«

Doch Möbius begeht einen doppelten Irrtum. Zum einen: Er hat sein Wissen eben nicht zurückgenommen. Denn er hatte es notiert und damit die Möglichkeit des Zugangs für andere geschaffen. Frau Mathilde von Zahnd »kopierte die Aufzeichnungen« und nutzte damit den bodenlosen Leichtsinn des gutgläubigen und zumindest in mancher Hinsicht naiven Wissenschaftlers aus. Wenn Gedanken erst einmal in einer anderen Menschen zugänglichen Form niedergelegt worden sind, sei es schriftlich wie von Möbius oder in Gesprächen oder Andeutungen, können sie unmöglich mehr zurückgenommen werden. Dies ist nur möglich, solange sie im Kopf eines einzelnen ruhen und dieser keine irgendwie gearteten Zugriffsmöglichkeiten darauf eröffnet.

Dieser grundlegende Irrtum Möbius' und logische Fehler Dürrenmatts ist vielleicht erklärbar aus dramaturgischer Notwendigkeit. Möbius nimmt seine Erklärung zurück, gibt seinen Irrtum zu und alle Hoffnung auf, das alles jedoch auf der Basis falscher Prämissen – und es ist eine Binsenwahrheit, dass ein solcher Schluß zwar durchaus richtig sein kann (und in diesem speziellen Fall auch ist), dies jedoch nicht durchaus und in jedem Fall sein muss. Möbius hat sich einmal geirrt – und wird nie feststellen können, ob er mit seiner zweiten Aussage nicht genauso danebenliegt!

Möbius’ Beispiel eignet sich nicht, Dürrenmatts Überzeugung zu belegen: »Auch gibt es keine Möglichkeit, Denkbares geheim zu halten. Jeder Denkprozeß ist wiederholbar... Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.« Diese Aussage kann nicht im Rahmen der »Physiker« überprüft werden. Eine solche Überprüfung muss sich an der Wirklichkeit orientieren und deren Maßstäben standhalten.

Die Verantwortung der Wissenschaftler/innen 
oder: Man entdeckt nicht jeden Tag die Relativitätstheorie

Zu Beginn dieses Essays stellten wir die Frage, ob Wissenschaftler/innen in der Lage seien, abzusehen, welche Auswirkungen ihre Forschungen haben – und, wenn sie dies sehen, die Konsequenzen zu ziehen.

Bei Möbius war es einfach, und in einem Falle wie seinem ist es wohl angebracht, das Wissen in seinem Kopfe zu verschließen. Und hätte Möbius das wirklich getan, wäre ihm die »Rücknahme« damit wohl auch gelungen. Warum sollte man Gedanken nicht geheimhalten können? Und auch wenn es richtig sein mag, dass Denkbares wiederholbar ist, wie Dürrenmatt meint, mag es doch lange dauern, bis es zu dieser Wiederholung kommt. Es gibt genügend Beispiele in der naturwissenschaftlichen Entwicklung, von Newton bis Einstein, wo Entdeckungen zwar »in der Luft lagen«, es jedoch durchaus noch Jahre bis Jahrzehnte bis zu ihrer »Wiederholung« hätte dauern oder vielleicht gar nicht dazu hätte kommen können. In dem anfangs erwähnten Stück von Heinar Kipphardt über Oppenheimer heißt es an einer Stelle:

Sollte ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin also tatsächlich einmal eine Entdeckung machen, von der er oder sie annehmen muss, dass sie nur zu grauenhaften Auswirkungen führen kann, wäre Geheimhaltung ein gangbarer Weg. Doch das ist nicht der Normalfall. Meist bietet eine Entdeckung, zumindest auf den ersten Blick, ebenso viele oder mehr Chancen als Risiken; man betrachte etwa die Möglichkeit, dank der Gentechnologie Diabetiker mit dem dringend benötigten Insulin zu versorgen oder Bluter den fehlenden Gerinnungsfaktor gentechnologisch unterstützt doch selbst produzieren zu lassen, die Nahrungsmittelsituation der Menschheit zu verbessern oder vielleicht einmal Krankeiten wie Krebs oder AIDS bekämpfen zu können. Viele Risiken sind oft auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen, zumindest für die »gemeinen Naturwissenschaftler/innen« nicht - da sie meist entweder spezieller Art sind bzw. nicht aus ihrem Fachgebiet (etwa die evolutionären Konsequenzen der Gentechnologie) oder im psychosozialen Bereich liegen (z. B. bei den »Retortenbabys«).

»Durchschnittliche« Naturwissenschaftler/innen sind gar nicht in der Lage, auch nur alle Auswirkungen auf ihrem eigenen Fachgebiet zu überblicken, geschweige denn die soziologischen und ökonomischen Implikationen – und das wäre auch eine absolute Überforderung! Sie können sich nur darauf verlassen, dass ihnen bei der Entscheidung, wie ihre Entdeckungen anzuwenden sind, geholfen wird. Schließlich sind Wissenschaftler/innen ganz normale Menschen mit Schwächen, Vorurteilen, eigensüchtigen Interessen und politischen Überzeugungen.

Es genügt nicht, von ihnen zu verlangen, sie sollten ethisch verantwortlich entscheiden, ja es ist ihnen gegenüber sogar eine Zumutung, ihnen eine solche Verantwortung alleine aufzuerlegen. Es tut not, von jener Wissenschaftsgläubigkeit wegzukommen, die meint, weil ein Mensch einen weißen Kittel trüge, sei er kompetent auf allen oder auch nur besonders vielen Gebieten.

Es ist wichtig, die Wissenschaft von außen zu kontrollieren. Denn sie kann nicht soviel, wie oft angenommen wird. In seinem fast schon legendären Werk »Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie« hat das der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend ausführlich und teilweise polemisch dargelegt:

Wir müssen uns verabschieden vom Bild des verantwortlichen Wissenschaftlers Marke Möbius, denn dieser ist die Ausnahme – und muss es bleiben. Erweitert man dieses von Jost Herbig auf die Biotechnologie bezogene Szenario noch um wissenschaftliche Neugier und militärische Interessen, hat man eine gute Beschreibung des modernen Wissenschaftsbetriebes.

Wir müssen einsehen, dass die Entscheidungen über die Anwendung von Forschungsergebnissen von der gesamten Gesellschaft getroffen werden müssen, sei es von den Entscheidungsträger/innen in der jeweiligen Gesellschaftsstruktur, durch Volksabstimmung oder in Gremien, wie vor Jahren in der sogenannten Benda-Kommission zur Fortpflanzungstechnologie (wobei dieses Gremium ein Beispiel dafür war, wie man es nicht machen sollte, schaut man sich die Auswahl der Beteiligten an). Die gewünschte Funktion der Nichtwissenschaftler/innen beschreibt Herbig so:

Glücklicherweise wird der Wahrheits- und Absolutheitsanspruch der Wissenschaft (wie der anderer Erkenntnissysteme, etwa der Kirche) immer weniger allgemein anerkannt: »Was berechtigt mich, das allen Zugängliche für realer zu halten als das nur mir Zugängliche?«, fragte Carl Friedrich von Weizsäcker zu Recht. Und auf die Frage: »Was ist Wissenschaft?«, so Feyerabend, Mit diesen Darlegungen über die Fragwürdigkeit des Absolutheitsanspruches der Wissenschaft hat Feyerabend zweifelsohne recht. Und neuere Erkenntnisse der Physik oder der Philosophie, z. B. der evolutionären Erkenntnistheorie, zeigen ja deutlich, wie unsicher selbst unsere Wahrnehmung der Welt ist, geschweige denn, dass man von so etwas wie einer »Kausalität« oder auch nur der Allgemeingültigkeit von Raum und Zeit ausgehen kann... Ob es nicht vielleicht sogar so ist, dass wir durch unsere Wahrnehmung wirklich etwas er – schaffen – ob ein Baum noch existiert, wenn ich mich von ihm wegdrehe und ihn nicht mehr sehe –, ist eine Frage, die letztendlich nie mit Sicherheit beantwortet werden kann, ist eine Glaubensfrage. Der Solipsismus (»Gibt es mich, oder werde ich nur gedacht?«) ist alleine durch Logik nicht widerlegbar...

Die Wissenschaft mit ihrer – mehr oder weniger festgelegten – Methodik, mit ihren Dogmen der Überprüfbarkeit und Wiederholbarkeit, kann nur Aussagen über bestimmte Bereiche unserer Welt machen – dies allerdings mit großer Wirksamkeit. Gerade in ihrer Beschränkung liegt denn auch ihre Stärke. Die Aussagen sind innerhalb ihrer Grenzen hinterfrag- und überprüfbar – mit allen Fehlern und Risiken, die menschliches Sein und menschliche Fehlerhaftigkeit mit sich bringen. »Vernünftige« Wissenschaftler/innen werden nicht versuchen, mit ihren wissenschaftlichen Methoden an Bereiche heranzugehen, die ihnen versagt, die einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise nicht zugänglich sind:

Damit spricht Max Planck allerdings auf den ersten Blick allen nicht-religiösen Menschen sowohl Moral als auch die Fähigkeit zum Handeln ab – wenn man jedoch »Religion« im weiteren Sinne versteht als geistig/spirituelle und/oder ethische Orientierung, hat Planck natürlich nicht ganz unrecht, auch wenn diese plakative Formulierung allzu einfach erscheint. Man muss den Satz im Kontext sehen; um das Ziel zu erreichen, dass Planck vorschwebte, nämlich den Naturwissenschaftler/innen verstehen zu geben: »Hört auf, angeblich wissenschaftliche Aussagen über etwas zu treffen, über das ihr keine machen könnt«, war er bestens geeignet...

Dass man Handeln und Denken, Wissenschaft und Ethik nicht trennen kann, legt sehr schön der evangelische Theologieprofessor Gert Hummel in einem Artikel zur umstrittenen Verkleinerung der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes dar:

»Wissenschaft« ist ein Teilbereich unseres Lebens, der seine Berechtigung hat, aber weder Allmacht noch Allzuständigkeit oder Unfehlbarkeit beanspruchen kann. »Wissenschaft« ist ein Werkzeug – ein Werkzeug des Erkennens, das der Mensch geschaffen hat und dessen er sich bedient, um besser (über-)leben zu können, so wie das Werkzeug »Technologie«. Wissenschaft ist nicht mehr – aber auch nicht weniger. Der Vorwurf der »Unwissenschaftlichkeit« hat dann seine Berechtigung, wenn er erhoben wird gegen Leute, die versuchen, Erkenntnisse als wissenschaftlich zu »verkaufen« und damit an Reputation zu gewinnen, obwohl sie es nicht sind. Er hat nichts damit zu tun, dass auf »unwissenschaftliche« Weise gewonnene Erkenntnisse prinzipiell schlechter oder weniger wert wären.

Wir sollten Wissenschaft und Technologie benutzen für die Dinge, für die sie geeignet sind, in erster Linie, um das Leben der Menschen – aller Menschen – zu bewahren und zu verbessern. Wir sollten forschen, wonach uns der Sinn steht – denn Neugier ist eine der wichtigsten Eigenschaften des Menschen –, aber doch überlegen, wohin es führt – und rechtzeitig innehalten. Denn, wie Carl Friedrich von Weizsäcker so schön ausführt, zunächst ist »der Wissenschaftler der glückliche Mensch, den die menschliche Gesellschaft dafür bezahlt, dass er sein Leben lang seiner kindlichen Neugier folgt.«Doch da eben »Macht eine unausweichliche Folge der Erkenntnis ist« und damit »notwendigerweise verbunden mit Verantwortung«, müssen die Wissenschaftler/innen irgendwann aufhören zu spielen und darüber nachdenken, was sie und andere mit diesem Spielzeug anfangen – sie müssen auch irgendwann erwachsen werden. Und eben um die einzelnen Wissenschaftler/innen nicht zu überfordern, tut hier demokratische Kontrolle not. Denn wir sollten nicht alles machen, was machbar ist, sondern nur, was nötig, wichtig und gut ist – und was dies ist, muss die Gesellschaft entscheiden.

Ich wende mich zwar entschieden gegen jene irrationale Wissenschaftsfeindlichkeit, die in unseren Zeiten des – gar nicht so neuen – »New Age« fast schon Hexenjagdcharakter annimmt, und plädiere für eine Einbeziehung aller Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnisse, seien sie wissenschaftlicher, spiritueller, theologischer oder anderer Natur. Doch diese Verteidigung der Wissenschaft muss differenziert bleiben und vor allem eines berücksichtigen: Wissenschaft ist nicht wertfrei, sie war es nie und kann es gar nicht sein.

Der Mensch soll neugierig sein (dürfen), und eine möglichst freie Grundlagenforschung ist eine der wichtigsten Grundlagen für die Freiheit einer Gesellschaft. Doch schon hierbei gibt es Grenzen, und spätestens bei der Anwendungsforschung muss die Gesellschaft (mit)entscheiden. Und viele Wissenschaftler/innen werden dafür, wie oben schon ausgeführt, gar nicht undankbar sein...

Hierzu hat Dürrenmatt in seinen 21 Anmerkungen zu den »Physikern« festgehalten:

Wichtiger als Wissen sind bei allen Entscheidungen immer Menschlichkeit und Reife – man könnte es auch Weisheit nennen. Dazu noch einmal Feyerabend: Wenn es um Fragen des Erhalts der Menschheit oder der Lebensqualität unserer Nachfahren geht, dürfen wir die Entscheidung weder den Politiker/innen noch den Wissenschaftler/innen überlassen; dazu ist die Lage zu kritisch, in einer Zeit der Hungersnöte und des Ozonlochs, des Treibhauseffekts und zu erwartender »Grüner Kriege«, der geringer werdenden Rohstoffquellen und des Unsicherheitsgefühls vieler Menschen, die weder in den klassischen Religionen noch in der Wissenschaft und Technologie, weder in einer politischen Ideologie noch in den Lehren des »New Age« oder irgendwelcher Gurus ein sanftes Ruhekissen, Sicherheit und Geborgenheit finden können: Eine solche Bewußtseins- und Wahrnehmungserweiterung ist wohl zu allerletzt von den Politiker/innen und den wirtschaftlich Herrschenden zu erwarten; wir selbst müssen ran und entscheiden, wohin der Weg führen soll. Den Wissenschaftler/innen alleine darf man die Entscheidungen nicht überlassen, denn, so der Biologe und Theologe Günter Altner: Schließlich:


Der Text ist entnommen dem Buch »...wie schmelzen deine Blätter« (1993), illustriert von Ulrike Schneidewind, und wurde erstmals (leicht gekürzt) veröffentlicht im Saarbrücker Anzeiger (Aug. 1989) sowie ungekürzt in der Saarbrücker Studentenzeitung (Nov. 1989)

Auszüge (mp3, 2:07, 885 KB) dieses Artikels, gelesen für die Radiosendung vom 11.04.2011 im Bermudafunk

Ergänzend entstand 2011 der Beitrag »Wissen und Verantwortung. Mögliche Positionen zur Wissenschaft zwischen Freiheit und Verantwortung« (Druckfassung, PDF, 660 KB) für die »Lern-Bögen Deutsch« 2011, dort als »Wissensspeicher« (S. 40 – 54), Brinkmann.Meyhöfer, Hannover 2011 (+ ergänzende Texte) – Auszüge (mp3, 33:56, 13,6 MB) der Druckfassung (PDF, 660 KB), gelesen für die Radiosendung vom 11.04.2011 im Bermudafunk


1) Heinar Kipphardt: In der Sache J. Robert Oppenheimer
Schauspiel (uraufgeführt 1964 an der Freien Volksbühne Berlin und den Münchner Kammerspielen) – Frankfurt 1964

2) Näheres u. a. in: Jörg Hüfner:
Welche besondere Verantwortung trägt der ­Naturwissenschaftler?
in: Helmut A. MÜLLER (Hrsg.): Naturwissenschaft und Glaube. Bern/München 1988/TB München 1993 – S. 200-202

3) Zum »Komitee über neukombinierte DNA-Moleküle, Assembly of Life Sciences, National Research Council, National Academy of Sciences« gehörten: David Baltimore, Paul Berg (Vorsitzender), Herbert Boyer, Stanley Cohen, Ronald Davis, David S. Hogness, Daniel Nathans, Richard Roblin, James D. Watson, Sherman Weissmann und Norton D. Zinder.

4) Näheres u. a. in: Gustav J. V. NOSSAL, Ross L. COPPEL: Thema Gentechnik – Eine lebensverändernde Wissenschaft (Reshaping Life) – Heidelberg/Berlin/New York 1992 – S. 156-158

5) Jost Herbig: Die Gen-Ingenieure. Der Weg in die künstliche Natur – Wien 1978

6) Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker – Komödie (uraufgeführt 1962 am Schauspielhaus Zürich)
Zürich 1962, Neufassung Zürich 1980

7) Lutz Tantow: Friedrich Dürrenmatt, Moralist und Komödiant (Biographie) – München 1992

8) Friedrich Dürrenmatt: Tragödie und Komödie (1954)

9) Friedrich Dürrenmatt: Kann man die heutige Welt noch mit der Dramatik Schillers abbilden? (1954)

10) Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie
(Against Method. Outline of an anarchistic theory of knowledge, 1975) – Frankfurt 1977

11) Gert Hummel: »Eine halbierte Kultur ist ein ganzer Unsinn«, Saarbrücker Zeitung, 11. /12. Juli 1992

12) Carl Friedrich von Weizsäcker: »Fortschritt ohne Bewußtseinserweiterung wäre eine Katastrophe«
Gespräch mit Dieter Mersch anläßlich Weizsäckers 80. Geburtstags, Frankfurter Rundschau, 25. Juni 1992

13) Günter Altner: Die »Weisheit« der Nobelpreisträger zum Rio-Umweltgipfel, Gastbeitrag für die «Frankfurter Rundschau«, 14. Juli 1992

14) Günter Altner: Mit Homunkulus auf Du, in: »Kirche in der Zeit«, 11/1984


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