»Dieses
Jahrhundert ist sicher ein Jahrhundert großer Krisen, auch großer
Möglichkeiten; und es scheint, dass in diesem Jahrhundert die Konsequenzen
von sechstausend Jahren Menschheitsgeschichte und vier- bis fünfhundert
Jahren neuzeitlicher Geschichte eine Deutlichkeit bekommen haben, die sie vorher
nicht hatten. [...] Und ein unbegrenzter Fortschritt, der nur ein technischer,
ein materieller Fortschritt ist und nicht zugleich eine größere Bewußtseins-
und Wahrnehmungsreifung enthält, kann nur katastrophal sein.«
Carl
Friedrich von Weizsäcker: »Fortschritt ohne Bewußtseinserweiterung
wäre eine Katastrophe«
Gespräch mit Dieter Mersch anläßlich Weizsäckers 80. Geburtstags,
Frankfurter Rundschau, 25. Juni 1992
Wir leben in einer seltsamen Zeit. Auf der einen Seite haben wir es in unserer Gesellschaft zu tun mit einer immer noch fanatischen Wissenschaftsgläubigkeit und –hörigkeit (wobei oft Wissenschaft mit Technologie verwechselt wird), auf der anderen Seite mit einer oft ebenso fanatischen Ablehnung alles Wissenschaftlichen oder Rationalen, die manchmal schon fast die Merkmale einer Hexenjagd annimmt. Da nimmt es denn nicht wunder, wenn in einer »Terra X«-Sendung neben Archäolog/innen und Anthropolog/innen Wünschelrutengänger/innen und Pendelbenutzer/innen auftreten – und den gleichen Rang an »Wissenschaftlichkeit« eingeräumt bekommen (was immer dies sein mag). Nach Meinung vieler Menschen leben wir schließlich im »New Age«, dem »Neuen Zeitalter«. Doch was bedeutet dieser eher nebulöse Begriff eigentlich?
Untersuchungen und Befragungen zufolge nimmt der Glaube an den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt kontinuierlich ab. Die meisten Jugendlichen glauben, dass das Leben für die Menschen in der Zukunft immer schwerer werden wird. Soziolog/innen sehen diese Zukunftsangst begründet in »der historisch neuen Zumutung an den einzelnen, sein Leben selbst zu führen, in einer Gesellschaft, die jegliche Einheitlichkeit und Überschaubarkeit in religiöser, politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht abgestreift hat... So lebt jeder nun in einer Welt, in der alles veränderbar erscheint und in der zugleich Entscheidungen unter Risiko getroffen werden müssen, was wiederum mit Angst verbunden ist.« (Hans Joachim Schulze)
Neil Postman kommt in seinem »Technopol« zum gleichen Schluß: »Wenn die Religion viel oder alles von ihrer Kraft verliert – wenn sie zu rethorischer Asche zerfällt –, dann entsteht unweigerlich Verwirrung darüber, woran man sich halten soll und wie man dem, woran man sich hält, Sinn geben kann.« Nach einer Umfrage des Allensbacher Instituts von 1991 beten von den 18- bis 24jährigen Westdeutschen 30 % nie, 9 % machten keine Angabe, 17 % beten selten und 19 % nur in Notfällen – bleibt ein Viertel, dass regelmäßig betet...
Während auf der einen Seite eine zunehmende Intoleranz vor allem fundamentalistischer Religiöser zu beobachten ist mit durchaus gefährlichen Tendenzen – man denke nur an die Religionskriege zwischen Hindus und Moslems in Indien oder an die Einführung der Scharia im Sudan, aber auch an die gefährlichen Praktiken und den zunehmenden Einfluß der Scientology Church oder fundamentalistischer christlicher Sekten –, verlieren auf der anderen Seite nicht nur die alten Ideologien und Religionen an Reiz, sondern zunehmend auch die säkularen Sinnvermittlungssysteme – so der Glaube an den wissenschaftlichen Fortschritt, an die Technik und an wirtschaftliches Wachstum. Sie verleihen den Menschen in den hochindustrialisierten Ländern nicht mehr das Gefühl von Sicherheit. Das einstige Vertrauen, das Wissenschaft und Technik entgegengebracht wurde, schlägt um in tiefes Mißtrauen – bis hin zu irrationaler Technikfeindlichkeit.
In dieser Umbruchsituation, in der nach anderen Wert- und Orientierungsmaßstäben gesucht wurde, entstand in den 70er Jahren ein neues religiöses Bewußtsein. Gefordert wurde eine Umkehr, ein »Zurück-zu-den-Wurzeln«, eine neue Ursprünglichkeit und unmittelbare Erfahrbarkeit des Lebens. Natürlich war nur wenig davon wirklich neu; so greifen etwa viele Vertreter/innen der New-Age-Bewegung auf Gedanken und Schriften alter oder auch neuerer Religionsstifter, Philosoph/innen und Psycholog/innen zurück, oft in durchaus mißbräuchlicher Weise, so dass man dann etwa lesen kann, C. G. Jung könne »in gewisser Weise als ein Vorläufer der New-Age-Bewegung angesehen werden, die ebenfalls ›transpersonale‹ Themen neu entdeckte und für die Beschäftigung mit der eigenen Person und Entwicklung nutzbar machen will« (Heiko Ernst/Ursula Nuber).
Inzwischen erfährt der Begriff »New Age« eine wahre Inflation in der Verwendung und wird immer schwammiger.
Es ist bereits unmöglich, über die fernöstlichen Religionen nebst allen alten Kulturen, die das New Age in sich vereint, informiert zu sein; um so schwerer ist es, seriöse Angebote von religiöser Schleuderware zu trennen. Natürlich gibt es Seriöses, Ernstzunehmendes, Gutes – aber auch jede Menge Geschäftemacher/innen und Ausbeuter/innen. In einem durchschnittlichen Buchladen findet man erheblich mehr »esoterische« Bücher als solche, die davor warnen; doch selbst überzeugteste Anhänger/innen von Esoterik, New Age oder Spiritualität geben zu, dass das meiste davon Schund ist oder einfach der Geldmacherei dient.
Proportional zum Bedürfnis nach Hoffnung und Sinngebung entwickelt sich das Geschäft mit der Zukunft: Sowenig es Nestlé interessiert, was mit den Kindern in der sogenannten »Dritten Welt« passiert, die mit Milchpulver, angerührt mit Wasser aus dreckigen Pfützen, ernährt werden, sowenig interessiert es so manche Heilsanbieter/innen, ob und wieweit Leute an ihren Produkten kaputtgehen (extrem gefährlich sind da gewisse Sekten). Diese Verbindung von Geschäft und Suche nach Sinngebung hat Pestalozzi einmal bezeichnet als »unheilige Allianz«, die zur »sanften Verblödung« führe: Das legitime Orientierungsbedürfnis werde mit nebulösen Illusionen nur scheinbar befriedigt.
Ein entscheidender Gedanke des New Age ist die »Transformation« des Menschen, der formale Autoritäten nicht mehr anerkennt, sondern sich auf seine eigenen unausgeschöpften Kräfte besinnt und Selbst-Bewußtsein entwickelt. »Das menschliche Bewußtsein ist im Begriff, eine Schwelle zu überschreiten, die so gewaltig ist wie jene vom Mittelalter zur Renaissance. Nachdem sie so viel harte Arbeit darauf verwendet haben, den äußeren Raum der physikalisch-naturwissenschaftlichen Welt zu erkunden, hungern und dürsten die Menschen nach einer Erfahrung, von der sie in ihrem Inneren fühlen, dass sie echt ist«, so M. C. Richards, einer der »Gurus« des New Age. Einer der Merksätze des New Age lautet nach Richards: »Der Mensch im Neuen Zeitalter denkt global und handelt lokal.« Dass diese Devise inzwischen zum Slogan vieler Umweltschutzbewegungen und Bürgerinitiativen wurde, ja sogar vom Bundesumweltamt als Devise verwandt wird (»Global denken, lokal handeln«) und laut Ökotest inzwischen »das zentrale Motto der Umweltbewegung« ist, ist nur ein Indiz dafür, wieweit Gedanken des New Age heutzutage in der Bevölkerung verbreitet sind.
Viele Lehren des New Age sehen im klassischen Werk des Konfuzianismus, dem »I-Ching« (»Buch der Wandlungen«), eine Möglichkeit der Neuorientierung. Danach steht im Mittelpunkt der Lehre das innerste Wesen der Wirklichkeit – das »Tao«. Das sich ständig in Bewegung befindende Tao ist durch das Gegensatzpaar »Yin« (chin.: dunkel) und »Yang« (chin.: hell) genauer definiert. Jegliches Sein auf der Erde und in der Welt kann durch Yin und Yang beschrieben werden: Mit »Yin« verbunden sind Dinge und Eigenschaften wie Erde, Mond, Nacht, Winter, Feuchte, Kühle, Inneres, nachgiebig, bewahrend, empfänglich, kooperativ, intuitiv, nach Synthese strebend – es ist das »weibliche« Element. »Yang«, das »männliche« Element, steht für Himmel, Sonne, Tag, Sommer, Trockenheit, Wärme, Oberfläche, Stärke, fordernd, aggressiv, wettbewerbsorientiert, rational, analytisch.
Nicht – wie man mißverständlicherweise meinen könnte – das männliche Element »an sich« ist schlecht oder schädlich, sondern das Ungleichgewicht zwischen Yin und Yang. Die New-Age-Bewegung geht davon aus, dass das Yang-Element in der westlichen Kultur zu dominant sei, zum Beispiel das Rationale und Analytische. Es gelte, beide Qualitäten dadurch auszugleichen, dass dem Yin mehr Gewicht zugemessen werde.
In der Psychologie und Psychotherapie gibt es viele Formen und Strömungen, die New-Age-Aspekte beinhalten oder mit ähnlichen Wert- oder Zielvorstellungen arbeiten, etwa die »Transpersonale Psychologie«; deren Ziele sind »innere Erfahrung, das Erkennen des Selbst..., die Transzendierung... und schließlich die Selbstverwirklichung im Einklang mit den transpersonalen Werten« (Ernst/Nuber). Dass dies quasi-religiöse Elemente beinhaltet, bedarf wohl ebensowenig der Erläuterung wie die Tatsache, dass diese Therapie, wie alle, die über eine Selbstentwicklung der Patient/innen hinaus auf »Werte« setzen, leicht zu Manipulationen führen kann. Insgesamt ist bei den modernen Strömungen der Psychotherapie, vor allem sogenannten »Humanistischen Therapien«, eine Hinwendung zu Aspekten, die auch in der Esoterik oder im New Age eine Rolle spielen, festzustellen; diese wollen »transpersonale Aspekte des menschlichen Daseins in die Therapie einbeziehen, also auch spirituelle oder religiöse Bedürfnisse, Sinnfragen, ethische und sonstige Probleme« (Ernst/Nuber).
Der Begriff »New Age« ist inzwischen – nein, er war es eigentlich von Anfang an – so diffus, dass es fast unmöglich ist, ihn sinnvoll abzugrenzen von Begriffen wie Esoterik, Spiritualität oder, z. B. in Musik und Literatur, »Neue Welle« (»New Wave«). Deshalb kann dies auch nur ein Versuch sein, allgemein etwas über das Phänomen New Age auszusagen und über einige der erkennbaren Hauptströmungen. Neben den hier bisher kurz dargestellten Richtungen, die sich teilweise auf wissenschaftliche Autoritäten wie Capra (»Wendezeit«) berufen, gibt es ein riesiges Spektrum von Formen, die teilweise nicht immer eindeutig dem New Age zugeordnet werden können – bis hin zu wirklich Gefährlichem, nicht nur für die Anwender/innen selbst, sondern auch für andere, etwa dem Satanskult.
Festhalten lässt sich aber für alle Spielarten des New Age, dass sie religiöse oder quasireligiöse Elemente beinhalten, ja teilweise selber den Charakter einer Religion annehmen. Ersetzt werden fehlende Geborgenheit und Spiritualität nach Ablegen »alter Zöpfe«, seien dies Religion, Ideologie, Fortschritts- oder Wissenschaftsgläubigkeit, durch neue Geborgenheit und Spiritualität im Rahmen neuer »Religionen« – auch wenn diese sich nicht so nennen.
Die Wirklichkeit gestalten wir in unserem Kopf – ob man dies nun wie moderne Philosoph/innen »Konstruktivismus« oder wie eher spirituell Denkende »Illusion« oder »Projektion« nennt –, und wenn es in dieser »unserer Wirklichkeit« Hexen gibt, dann gibt es sie auch in der »echten Wirklichkeit«, in der allgemein anerkannten Realität – und wir können (und dürfen?) diese dann verbrennen.
Von den Hexenverbrennungen über die Vernichtung der Juden bis zu Rassismus, Sexismus und der offenen Wissenschaftsfeindlichkeit unserer Tage führt eine Linie. Wissenschaftlicher Rationalismus, dessen Überbetonung Anhänger/innen des New Age zu Recht kritisieren, wird ausgetauscht gegen vorwissenschaftlich-magische Beeinflussungspraktiken. Dagegen ist zunächst gar nichts zu sagen. Der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend schreibt in seinem epochalen Werk »Wider den Methodenzwang – Über die Anarchie der Erkenntnis«:
Gibt es eine Grenze für die Ideen und die Theorien, die man vorschlagen kann? Ich glaube nicht. Jedenfalls kann die Methodologie keine solche Grenze angeben... Wenn man Regentänzen eine Wirkung auf die Natur abspricht, so gibt es dafür... weder unmittelbare noch mittelbare Gründe. Das Urteil beruht vielmehr auf einer Ideologie, die nie im einzelnen formuliert wird, für die man aber das gleiche Gewicht wie für wissenschaftliche Theorien beansprucht. Viele ›wissenschaftliche Argumente‹ gegen Gedanken und Erscheinungen, die die Wissenschaftler nicht mögen, haben diesen ideologischen Charakter. [...]
Galilei verletzte wichtige Regeln der wissenschaftlichen Methode... hatte Erfolg, weil er diese Regeln nicht befolgte; die Mehrzahl seiner Zeitgenossen übersah grundlegende Schwierigkeiten, die damals bestanden... Die Unkenntnis war ein Segen. [...]
Wissenschaftler halten sich oft an eine spezielle Ideologie, ihre Ergebnisse sind bedingt durch die Prinzipien dieser Ideologie. Die Ideologie wird nur selten untersucht. Sie wird entweder nicht bemerkt, oder sie gilt als zweifellos richtig, oder sie ist so in die Forschung eingebaut, dass jede kritische Untersuchung zu ihrer Bestätigung führen muss. [...]
Dass nur die Wissenschaft Resultate hat, ist ganz offenkundig falsch. Jede Ideologie, jede Lebensform hat Resultate... Und die Behauptung der Wissenschaftler, allein brauchbare Methoden und Erkenntnisse zu besitzen, erweist sich damit als ein Zeichen nicht nur ihrer Einbildung, sondern auch ihrer Ignoranz. [...]
Wir verdanken der Wissenschaft unglaubliche Entdeckungen. Wissenschaftliche Ideen haben unseren Geist geklärt und unser Leben verbessert. Andererseits hat die Wissenschaft positive Errungenschaften früherer Zeiten verdrängt und dadurch unser Leben wichtiger Möglichkeiten beraubt. Genau dasselbe gilt von den uns heute bekannten Mythen, Religionen, magischen Lehren. [...] Und diese haben außerdem auch noch genau erkannt, dass der Versuch einer rationalistischen Erforschung der Welt seine Grenzen hat und beschränktes Wissen hervorbringt.
Im Vergleich mit diesen Errungenschaften stehen die Wissenschaft und die sie begleitende rationalistische Philosophie weit zurück – aber übersehen wir diesen Nachteil. Behalten wir bloß die eine Lehre, dass es viele Weisen des In-der-Welt-Seins gibt, jede mit ihren Vorteilen und ihren Nachteilen, und dass sie alle nötig sind, um uns zu Menschen im vollen Sinn des Wortes zu machen und die Probleme unseren Zusammenlebens in dieser Welt zu lösen.«
Der Weg der Wissenschaft verlief nie so geradlinig, wie es deren Vertreter/innen gerne sehen. Der Blick zurück lässt uns Wissenschaftsgeschichte erscheinen als ein kumulatives Wachstum von Erkenntnis. Betritt man diesen »scheinbar so wohlgeordneten Garten der Erkenntnis« (Thomas Cremer) jedoch von der anderen Seite, eröffnet sich uns ein Irrgarten. Eine Erkenntnis hat nicht mehr »automatisch« eine bestimmte andere zur Folge; es eröffnen sich unzählige Alternativen, von denen viele jahre- oder jahrhundertelang als die »richtigen« angesehen wurden, obwohl wir heute wissen – oder zu wissen vermeinen –, dass sie die falschen waren. Dies lag nicht unbedingt an Unwissenheit, auch nicht an der Unkenntnis verfügbaren Wissens oder fahrlässigen Irrtümern der damaligen Wissenschaftler/innen, auch wenn all dies oft eine Rolle gespielt hat. Die Weltbilder der Wissenschaftler/innen waren beeinflußt von den geistigen Strömungen ihrer Zeit, etwa der altehrwürdigen Theorie der Urzeugung seit Aristoteles, vom Glauben an immaterielle Lebensprinzipien, von der Vorstellung einer zielgerichteten Evolution als Ausdruck »vitalistischer Kräfte«. Weltbilder verändern sich im Zusammenhang mit der Veränderung des Wissens; beides ist nicht voneinander losgelöst zu betrachten.
Nach der Evolutionären Erkenntnistheorie sind unsere Wahrnehmungs- und Denkstrukturen so angelegt, dass sie aus der Fülle der Informationen selektiv wahrnehmen und dieses Wahrgenommene zu einem beschränkten, aber für das Überleben nützlichen Weltbild verarbeiten. Zunächst – sowohl im Rahmen der Phylo- als auch der Ontogenese, also sowohl der individuellen als auch der stammesgeschichtlichen Entwicklung – wird dieses Weltbild für die gesamte objektiv existierende Umwelt gehalten. Informationslücken spielen keine Rolle, können sogar zweckmäßig sein, solange das Weltbild überlebensadäquate Reaktionen erlaubt.
Ein klassisches Beispiel hierfür ist der »Weltbildapparat« der Zecke, der für den Beute»fang« nur mit den Informationen »Buttersäure« (zum Fallenlassen) und »Temperatur der Haut« (zum Festsaugen) auskommt. Unterdrücken »unwesentlicher« Informationen kann ebenso notwendig sein wie die Fähigkeit, die Bedeutung »wesentlicher« Informationen zu verstärken. »Unwesentlich« und »wesentlich« erhalten ihre Bedeutung hier im Kontext des Überlebens bzw. der Fortpflanzungsfähigkeit. »Wahre« Erkenntnis – falls es so etwas überhaupt geben sollte – ist im Sinne des Überlebens unwichtig, manchmal vielleicht gar nicht wünschenswert.
Dies kann man analog betrachten für die kulturelle Evolution und damit auch die Entwicklung im Bereich der Ideologien und Wissenschaften. Die drohende Verbrennung oder auch die Verbannung aus dem Wissenschaftsbetrieb mögen durchaus Gründe sein, als »wahr« Erkanntes nicht wahrhaben zu wollen...
Es ist enorm wichtig, zu erkennen, wie beschränkt der Bereich ist, in dem man mit Hilfe der wissenschaftlichen Methode etwas aussagen kann – allerdings auch, wie extrem aussagestark diese Methode dafür in diesem beschränkten Bereich ist – und welche, keineswegs selbstverständlichen, Voraussetzungen man als gegeben hinnehmen muss, um Aussagen mittels dieser Methodik machen zu können. (Eine hervorragende und vor allem leicht verständliche Darlegung der Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaft sowie der notwendigen Voraussetzungen und Annahmen gibt im Rahmen seiner Darstellung der Evolutionären Erkenntnistheorie Rupert Riedl in seinem Buch »Biologie der Erkenntnis«.)
Für viele Menschen unserer Zeit ist Wissenschaftsgläubigkeit immer noch eine Art Ersatzreligion. Dagegen wehren sich immer mehr auch Wissenschaftler/innen:
Es ist in unserer Zeit notwendiger denn je, die Grenzen der Wissenschaft zu
erkennen, und viele einsichtige Wissenschaftler/innen wie etwa Planck, Heisenberg
oder Einstein haben das schon früh getan.
Doch in der New-Age-Bewegung wird aus berechtigter Wissenschafts- und Technologiekritik oft beinahe eine »Hexenjagd« gegenüber Wissenschaftler/innen.
In seiner Geschichte »Verbrennt die Hexer« hat der amerikanische Science Fiction-Autor James E. Gunn schon 1956(!) vor den Gefahren übertriebener Wissenschaftsgläubigkeit ebenso gewarnt wie vor denen einer überzogenen Kritik (wobei in dieser Geschichte auch Nationalismus und Anti-Kommunismus/McCarthyismus eine gewichtige Rolle spielen). Die Universitäten brennen; einige überlebende Wissenschaftler versuchen, sich als »Hexer« und »Schamanen« in die neue Gesellschaft einpassen, wo sie von der neuen Wundergläubigkeit profitieren. Gunn bietet keine Lösung, aber schreibt manches Bedenkenswerte – in beide Richtungen:
Es gibt noch einen weiteren Aspekt des New Age, den man nicht außer acht lassen sollte und auf den Horst-Eberhard Richter in seinem Buch »Umgang mit Angst« hinweist: die Tendenz vieler esoterisch oder spirituell ausgerichteter Menschen, die praktische Politik, das pragmatische Arbeiten an und in dieser Welt für nicht wichtig zu halten und sich dem zu entziehen:
Unter anderem dafür, aber auch für alle anderen Bereiche unserer gesellschaftlichen Entwicklung brauchen wir die Philosoph/innen, die religiös, spirituell oder ethisch Motivierten, eine Entwicklung unseres Bewußtseins, unserer Erkenntnis und unserer Ethik – wobei die Kreuzzüge, die Hexenverbrennungen und die Ergebnisse von 500 Jahren Conquista zeigen, dass religiöse oder ähnliche Motive ebenfalls zu den grausamsten Ergebnissen führen können, vor allem, wenn sie sich mit wirtschaftlichen Interessen verbinden – und wir haben heute z. B. mit den blutigen Kämpfen zwischen Hindus und Moslems in Indien aktuelle Beispiele vor Augen.
Wir brauchen weltweit eine Zusammenarbeit von Technologie und Spiritualität, von Intellektualität und Emotionalität. Wir brauchen aber zugleich eine echte Trennung von Religiosität/Spiritualität und Gesellschaft oder, klassisch formuliert, von Kirche und Staat. Jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene spirituelle, religiöse oder nicht-religiöse Haltung, aber kein Mensch hat das Recht, diese für andere verbindlich zu erklären oder die daraus folgenden gesellschaftlichen Konsequenzen anderen aufzuzwingen.
Wir brauchen Rationalität und Spiritualität nicht nur im gesellschaftlichen Bereich, sondern auch im privaten – aber ohne Zwang! Jeder Mensch muss die Möglichkeit haben, skeptisch zu bleiben gegenüber einigen oder allen Formen der Religiosität, jeder Mensch muss Agnostiker oder Agnostikerin sein dürfen:
Glücklicherweise gibt es in vielen Religionsgemeinschaften tolerante Menschen und Funktionäre, die es zu unterstützen gilt, um der gefährlichen »Re-Fundamentalisierung« (Hans Küng) in fast allen Religionen entgegenzuwirken. Ein leuchtendes Beispiel für Toleranz ist der Dalai-Lama, der auf dem Kirchentag 1993 in München ausführte:
Alle am Überleben der Menschheit Interessierten müssen zusammenarbeiten, sich gegenseitig Kompetenz in ihrem jeweiligen Bereich zusprechen und vor allem – bis zum Beweis des Gegenteils – den guten Willen bei den jeweils anderen unterstellen. Denn nur gemeinsam können wir die riesigen Aufgaben der Zukunft bewältigen – und darum geht es ja schließlich: »ums miteinander Überleben oder gegeneinander Untergehen« (Hanns Dieter Hüsch).
Von allen Seiten muss Toleranz geübt werden, wenn wir überleben wollen. Toleranz kommt übrigens vom lateinischen »tolerare« – »ertragen« ...
Der Text ist entnommen dem Buch »...wie schmelzen deine Blätter« (1993), illustriert von Ulrike Schneidewind, und wurde erstmals veröffentlicht in BISS, das Saarmagazin (1/1991) sowie anschließend in der Saarbrücker Studentenzeitung (Nov. 1991), in Saarländisches Kultur-Journal (4/1992) sowie als eigenständiges Kapitel im Buch Einsichten — Aussichten von Roland-Lothar und Christel Kohls (1992)
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