»Gar manches ist vorherbestimmt;
Das Schicksal führt ihn in Bedrängnis;
Doch wie er sich dabei benimmt,
Ist seine Schuld und nicht Verhängnis.«
Wilhelm Busch: »Hans Huckebein, der Unglücksrabe«
Hans Huckebein, der trank zuviel.
Das brach ihm das Genick.
An diesem Tag war Hans Huckebein wieder betrunken.
Das allein hätte den Tag noch nicht zu einem besonderen Tag gemacht,
denn betrunken war er jeden Tag. Dass er an diesem Tag sterben sollte,
das machte diesen Tag – zumindest für Hans Huckebein – zu einem ganz
besonderen Tag.
Natürlich hieß er in Wirklichkeit nicht
Hans Huckebein, und er war auch kein schwarzer Rabe, aber dieser Spitzname
war an ihm hängengeblieben, seitdem seine Schulkameraden rausgekriegt
hatten, dass und warum seine Tante ihn immer so nannte. Bei dieser
Tante, die der einzige Mensch war, bei dem er sich glücklich fühlte,
hatte er eines Tages eine Schale Heidelbeergelee vom Balkon gestoßen
und dabei die gesamte im Garten aufgehängte Wäsche mit hübschen
schwarzblauen Mustern verziert. Diese Tante, die zu allem Überfluß
auch noch Helene hieß (nicht »die fromme«), war eine
begeisterte Buschleserin und konnte über den Vorfall herzlich lachen.
Doch seinen Spitznamen hatte er von da an weg.
An diesem ganz besonderen Tag also torkelte Hans
Huckebein durch eines der kleinen Gäßchen in der Fußgängerzone
von Saarbrücken und versuchte, ungefähr die Richtung zum St.
Johanner Markt zu bewahren. Nicht, dass er dort etwas zu erledigen
gehabt hätte – was hatte ein ungelernter und arbeitsloser Jugendlicher
heute schon großartig zu erledigen, außer die Zeit totzuschlagen
-, aber bei dem schönen Frühlingswetter konnte er sicher sein,
dort ein paar Jungs zu treffen, mit denen er quatschen und saufen konnte.
Ab und zu blieb Hans Huckebein an einem der kleinen Schaufenster stehen,
die die Fröschengasse säumten, nicht, um etwas anzusehen, sondern
nur, um mit Hilfe der so schön senkrecht stehenden Glasscheiben sein
Gleichgewicht einigermaßen wiederzufinden. Heute hatte er wohl doch
schon etwas zu viel getrunken – am frühen Morgen hatte ihm wieder
mal, nach einer frustrierenden Nacht, ein Mädchen den Laufpaß
gegeben, und so versuchte er sich darüber hinwegzutrösten, dass
er einfach nicht in der Lage war, seine freie Zeit so herrlich zu Selbstfindung,
Selbstverwirklichung usw. auszunutzen, wie es die Redner der Bundesregierung
und der Wirtschaftsorganisationen den Arbeitslosen immer empfahlen (»Arbeitslosigkeit
ist eine Chance ...«). Dieser Gedanke deprimierte ihn jetzt völlig,
und so setzte er schnell nochmal die fast leere Flasche an.
An diesem ganz besonderen Tag hatte eine der örtlichen
Friedens- oder Antiatom- oder Sonstetwas-Bewegungen wieder mal zu einer
Demo aufgerufen mit anschließender Kundgebung auf dem St. Johanner
Markt (aber woher, bitte sehr, hätte Hans Huckebein das schon wissen
sollen, und wenn er es gewußt hätte, hätte es auch nichts
geändert). Hier sollte man vielleicht einfügen (damit der/die
Leser/in, wie es sich in einer ordentlichen Geschichte gehört, auch
über alles informiert ist), dass Hans Huckebein natürlich
niemals Zeitung las und höchstens einmal zufällig Nachrichten
hörte. Sein Interesse an der Politik war nur einmal erwacht, als so
ein Typ mit einem Button »Null Bock auf mich« ihn dazu überreden
wollte, eine neue Partei mitzugründen, deren einziges Ziel es sein
sollte, für eine ordnungsgemäße und ökologisch vertretbare
Selbstausrottung der Menschheit einzutreten. Aber die Sache war dann irgendwie
eingeschlafen, und seit jener Zeit interessierte sich Hans Huckebein nur
noch für sich selbst.
An diesem besonderen Tag nun, von dem hier die
Rede sein soll, hatten die Bullen natürlich längst alles vorbereitet,
um die (selbstverständlich legale) Kundgebung auf (selbstverständlich)
legale Weise wieder aufzulösen. Genügte doch nach dem neuen Demonstrationsstrafrecht
schon die Tatsache, dass ein/e einzige/r Anwohner/in sich in seiner/ihrer
wohlverdienten Ruhe gestört fühlte, um die Kundgebung sofort
für illegal zu erklären. Und wer nach der ersten Aufforderung
nicht rechtzeitig verschwand, hatte halt die Folgen zu tragen... (Doch
woher, muss ich noch einmal fragen, hätte Hans Huckebein das
schon wieder wissen sollen? Und auch, wenn er das und vieles mehr gewußt
hätte – geändert hätte es ja doch nichts!)
An diesem besonderen Tag also setzte sich ein jetzt
doch ziemlich gefühlsduseliger Hans Huckebein auf einen der niedlichen
Steine Marke Obelix, die da seit neuestem überall um den Brunnen am
St. Johanner Markt rumstanden und -lagen, eben damit man sich darauf setzen
konnte, und wunderte sich nur ein bißchen, dass da soviele Leute
um ihn herumstanden und noch viel mehr Bullen mit Schilden, Helmen, Schlagstöcken
und Hunden. Der kleine Kasten, den ein paar Polizisten zwischen sich stehen
hatten und mit Argusaugen bewachten, fiel ihm gar nicht erst auf.
An diesem besonderen Tag sollte der Ersteinsatz
einer Waffe erfolgen, die in Polizeikreisen unter dem Namen DINO bekannt
ist (Distanzwaffe zur Inhaftierung von Demonstranten mittels eines Netzes
von oben) und die später von einer im Untergrund operierenden Zeitung
den sinnigen Namen PIMMEL erhalten sollte (Polizeiwaffe zur Inhaftierung
mittels eines Maschennetzes von einiger Länge). Doch selbst wenn Hans
Huckebein das alles gewußt hätte – was er unmöglich konnte
–, geändert hätte es nichts!
An diesem besonderen Tag also war Hans Huckebein
immer noch relativ wenig erstaunt, als er sich plötzlich inmitten
einer größeren Menschenmenge wiederfand. Er sah zwar die Schlagstöcke,
die an deren Rand durch die Luft pfiffen, aber seine Erfahrung mit Demonstrationen
und Grünröcken war zu gering, um zu wissen, dass die Demonstrant/innen
zusammengedrängt und eingekesselt wurden. Seine einzige Sorge war,
dass sein Flachmann – die Rotweinflasche war inzwischen leer – nichts
abbekam, und so stellte er sich hin und hielt ihn hoch über die Köpfe
der Leute, ab und zu einen Schluck nehmend. Sonst machte er sich keine
Sorgen – er hatte ja nichts Unrechtes getan.
Dieser ganz besondere Tag war ein großer
Tag für jenen deutschen Chemiekonzern, der mit der Entwicklung der
neuen Distanzwaffe nun endgültig die Marktführung auf diesem
Gebiet übernommen hatte. Bei dem Netz handelt es sich um ein einziges
Makromolekül. Ein Klumpen aus einem solchen Molekül wird in entsprechender
Dosierung – Standardgrößen werden billiger geliefert – direkt
über die Gruppe geschickt, die gefangengenommen werden soll. Das Molekül
entfaltet sich bei Erreichen der Wirkhöhe (etwa zwei Meter) zu einem
Netz mit Maschen von etwa fünfzehn bis zwanzig Zentimeter Seitenlänge.
Das Material ist trotz seiner Dünne stabiler als Stahldraht. Man muss
nur noch die Ecken aufnehmen und das Netz zusammenziehen, und die Inhaftierung
ist abgeschloßen. (Hätte Hans Huckebein das alles gewußt
- ja, dann wäre vielleicht alles noch anders gekommen. Doch wer konnte
das damals schon wissen!)
Und deshalb war dieser besondere Tag auch für
die Friedens- und Umweltbewegung ein wichtiger Tag. Denn so bedauerlich
es für Hans Huckebein auch war: Sein Schicksal gab Aufschluß
über Wirkungsweise und Gefahren von DINO/PIMMEL. Und so kam es, dass
von diesem Tage an Demonstrant/innen, die das Netz über sich herabschweben
sahen, sogleich die Igelhaltung einnahmen, und das ist der Grund, dass
man statt von Demo heute meist von »Iglo« redet.
Dass dies ein besonderer Tag war, wurde auch
Hans Huckebein langsam klar, als er plötzlich nicht mehr an seinen
Schnaps kam. Denn der Arm, mit dem er den Flachmann hielt, steckte in einer
seltsamen Schlinge aus dünnem Draht oder etwas ähnlichem, ohne
dass er wusste, wie das gekommen war. Überhaupt schien dieses
Zeugs überall zu sein; alle Leute waren damit bedeckt. Das wäre
ja nicht weiter schlimm gewesen, wenn er nur an den Schnaps gekommen wäre.
Die Leute standen zu dicht um ihn herum, als dass er den Arm aus der
Schlinge hätte ziehen können ... Und dann hatte Hans Huckebein
die Idee: Er fuhrwerkte solange herum, bis er auch den Kopf in einer Schlinge
hatte. Jetzt kamen Hand und Mund endlich wieder zusammen. Glücklich
nahm er einen großen Schluck.
Und das war der Moment, in dem sie das Netz zuzogen.
Hans Huckebein, der trank zuviel.
Das brach ihm das Genick!
Zur Startseite von Friedhelm Schneidewind |
Zum Impressum von Friedhelm Schneidewind |